Welche Unklarheiten oder Irrtümer zu Palliative Care gibt es?
Simone Kuhn: Palliative Care (PC) wird oft verwechselt mit End-of-Life Care, also dem Abschnitt des Lebens, wo eine unheilbare Krankheit bereits sehr fortgeschritten ist und das Sterben sichtbar wird. PC setzt jedoch viel früher ein und ist vom Neugeborenen bis zum hochbetagten Menschen allen zugänglich. Für Fachpersonen beginnt sie dann, wenn der Krankheitsverlauf eine Heilung unwahrscheinlich werden lässt. Die Grenze zwischen kurativer und palliativer Behandlung ist fliessend. Dies bringt einen weiteren Irrtum zum Vorschein: Auch in palliativen Behandlungen können kurative Therapien eingesetzt werden, z. B. dann, wenn sie schmerzlindernd sind und so die Lebensqualität des Patienten erhöhen. Ebenso stelle ich fest, dass Palliative Care oft als Gegenpol zu assistiertem Suizid (AS) verstanden wird. Beim AS wird der Fokus jedoch auf die Frage «Wann ist das Leben für mich noch lebenswert und wann nicht mehr?» gelegt, wohingegen PC sich der Frage widmet: «Wie kann ich mein Leben leben, dass es für mich trotz Einschränkungen und Krankheit lebenswert ist?»
Gibt es «Muster», die Betroffene und ihre Angehörigen von der Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit bis hin zum tod durchlaufen?
Ja und nein. So wie jeder Mensch sein Leben individuell gestaltet, gehen Menschen auch mit Krisen individuell um. Dennoch gibt es allgemeine Beobachtungen, wie Menschen mit Krisen umgehen. Verena Kast, eine Schweizer Psychologin, beschreibt vier Phasen einer Krise: Zuerst zeigen die Menschen eine Schockreaktion, sie können oder wollen noch gar nicht wahrhaben, was sie gehört haben. Dann zeigen sich meist viele verschiedene Emotionen wie Wut, Angst, Verzweiflung. Manche stellen sich auch die Frage der Schuld: «Was hätte ich anders tun können?», «Wer ist schuld an dieser Situation?» Nach und nach versuchen sie die Situation zu akzeptieren, auch, indem sie beginnen, ihr Leben zu reflektieren. Und immer wieder versuchen Betroffene, ihr Leben unter den gegebenen Umständen neu zu gestalten. Da sich das Leben mit einer unheilbaren Erkrankung jedoch stetig verändert, ist der Umgang damit ein ständiger Prozess, ein Ringen um Verstehen, Akzeptieren, Einordnen, Zulassen, Frieden finden und immer wieder LEBEN.